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Eine moderne Nacherzählung – wirklich?

Spätestens seit Greta Gerwigs Neuverfilmung von 2019 hat der beliebte Klassiker „Little Women“ von Louisa May Alcott Aufwind erfahren. Die US-amerikanische Autorin Virginia Kantra hat sich mit „Meg & Jo“ an einer modernen Nacherzählung versucht – und dabei liegt die Betonung auf „versucht“. Warum neu nicht immer besser ist, könnt ihr hier lesen.
Die Rezension enthält, insbesondere gegen Ende, Spoiler.

Der Start meiner Begeisterung

Es ist Februar 2020 und ich sitze mit einer Freundin im Kino. Wir sehen den Film „Little Women“ von Greta Gerwig (der letzte Film, den ich im Kino geschaut habe – erinnert ihr euch noch an Popcorn-Duft, Filmvorschauen und den Moment, in dem das Licht ausgeht und man ganz im Film drin ist?). Und sind, wie viele andere Menschen auch, komplett begeistert. Zu Hause bestelle ich mir die Buchvorlage von Louisa May Alcott, die erstmals 1868 veröffentlicht wurde. Die Geschichte um die vier so unterschiedlichen Schwestern Meg, Jo, Beth und Amy zieht mich in ihren Bann. Klar, die Sprache wirkt stellenweise etwas antiquiert. Aber gepaart mit den Bildern, die ich von Gerwigs Interpretation noch im Kopf habe, macht mir das nichts aus. Auch den zweiten Teil der insgesamt vierbändigen Reihe verschlinge ich.

Zufällig stoße ich letztes Jahr auf „Meg & Jo“ von Virginia Kantra, welches bisher nur auf Englisch erschienen ist. Beworben wird es als „contemporary retelling“ und „heartwarming modern tale“. Im Mai 2021 soll der zweite Band „Beth & Amy“ erscheinen, der sich um die beiden jüngsten Schwestern aus der March-Familie dreht. Ich frage mich: Wie ergeht es den vier Schwestern im 21. Jahrhundert? Welche Elemente lassen sich in die moderne Zeit übertragen, welche werden geändert?

„Little Women“ ist ein zeitloser Klassiker – aber wie steht es um „Meg & Jo“?

In „Meg & Jo“ wird abwechselnd die Perspektive der ältesten Schwestern eingenommen. Meg ist, wie bei Alcott auch, mit dem grundsoliden John verheiratet. Die beiden haben Zwillinge, DJ und Daisy. Meg ist Hausfrau und Mutter, John arbeitet bei einem Autohändler. Sein Chef ist ebenfalls eine bekannte Figur: Laurie, der Nachbarsjunge der March-Schwestern und praktisch ein Familienmitglied. In Kantras Version heißt er aus unerfindlichen Gründen Trey und zeichnet sich überwiegend dadurch aus, dass er schnelle Sportwagen fährt und Jo unter Druck setzt. Aber dazu später mehr. Wen es interessiert: Beth tourt mit einem Country-Sänger und Amy arbeitet bei Louis Vuitton. Clichée much.

Meg: Die genügsame Schwester ohne große Entwicklung

Meg, die verlässliche, große Schwester, lebt das Leben, das sie sich immer gewünscht hat. Zumindest denkt sie das. Sie nimmt ihrem Mann jedwede Arbeit im Haushalt ab und traut ihm kaum zu, auf die gemeinsamen Kinder aufzupassen. Aber Meg beklagt sich nie, weil es ihr Mann gut haben soll und die liebsten Worte ihrer Mutter „no fuss“ sind – „keine Aufregung“. Zielsicher tritt Meg in die Fußstapfen ihrer Mutter und macht exakt dieselben Fehler. Im Gegensatz zu ihrem Vater ist John jedoch davon nicht allzu begeistert und möchte die Arbeit gerechter aufteilen. Ein kleiner Lichtblick in der dunklen Männerwelt Kantras. An anderen Stellen handelt John jedoch schlichtweg unüberlegt. Ein Beispiel gefällig? Zu Weihnachten schenkt John den Kindern, die gerade mal sprechen können, einen Hund, ohne dies mit seiner Frau zu besprechen oder vorher groß zu überlegen, wer mit dem Tier die meiste Arbeit haben wird. Ähnlich wie Megs Vater ist er groß darin, seiner Frau mehr Arbeit aufzudrücken. Für Meg ist die Sache mit dem Hund nach kurzem Zögern allerdings total okay, schließlich konnte ihr Mann als Kind nie einen Hund haben. Dem Mann die Kindheit zurückgeben, die er nie hatte? #marriagegoals! Ich will nicht zu viel verraten, aber Meg und John lösen ihre Probleme nur in Teilen. Sie reden auch am Ende des Buches kaum über die Pläne, die sie fürs Leben haben, sondern schenken sich gegenseitig Gutscheine für ein gemeinsames Wochenende – allerdings zu verschiedenen Locations, das lustige Missverständnis des Buches. Und das, obwohl Meg die Fehler ihrer Eltern wiederholt und sogar darum weiß, wie wir aus ihrer Innensicht erfahren. Naja, ein wenig Zweisamkeit wird die jahrelang angehäuften Konflikte sicher lösen. Megs große Emanzipation ist es übrigens, nicht mehr alle Kuchen für Weihnachten und Thanksgiving selbst zu backen, sondern auch mal welche im Supermarkt zu kaufen. Einfach schön, wenn man alle Probleme in Sachen Gleichberechtigung so leicht lösen kann!

And finally Meg, bustling in the back door, bringing the twins and two pies.
„Lot of fuss,“ our mother said, taking them from her. „Not that I don’t appreciate it.“
„No fuss,“ Meg said. „They’re from Connie’s.“
I looked at the perfectly finished crusts. „Store-brought? Good for you.“
Meg smiled. Se shrugged. There was an ease, a confidence, in her that wasn’t there before.

Virginia Kantra: Meg & Jo, S. 359.

Der Vater: Der Fremde in der eigenen Familie

Als die Mutter der March-Schwestern verunfallt und operiert werden muss, versucht Meg, auch noch ihren Teil der Arbeit auf der elterlichen Farm zu übernehmen. Wobei elterlich das falsche Wort ist, denn der Vater glänzt durch Abwesenheit. Wie im Original auch ist er Pastor. Nachdem er im Irak-Krieg war, arbeitet er nun als Seelsorger für die Soldaten (hier wird bewusst nicht gegendert, denn in Kantras Welt scheint es keine Frauen bei der Army zu geben). Immer wieder überhäuft der Vater die Mutter mit mehr Arbeit, ohne selbst einen Finger zu rühren, so zum Beispiel, als er unangekündigt vier weitere Gäste zu einem Feiertagsessen mitbringt und sich keine Gedanken darüber macht, was die spontane Belastung für seine Frau bedeutet. Andere Familien kann er trösten, mit seiner eigenen kommuniziert er kaum. Stets sind andere Schicksale wichtiger. Selbst als seine Frau nach ihrer komplizierten OP im Krankenhaus liegt, fliegt er zu einer Konferenz in einen anderen Bundesstaat. Ja, er will etwas Gutes tun und sich für Menschen einsetzen, denen es schlechter geht als seiner Familie; aber er tut dies auf dem Rücken seiner Frau. Als diese ausfällt, erwartet er stillschweigend von seinen Töchtern, dass diese die Rolle der Mutter einnehmen. Selbst mit anzupacken? Das kommt ihm nicht in den Sinn. Während ich den Vater in Alcotts Büchern aufgrund des Krieges zwar ebenfalls überwiegend als abwesend empfunden habe, hatte ich nie den Eindruck, dass seine Familie bei ihm die letzte Geige spielt oder er die Sorgen seiner Töchter nicht ernstnimmt. Bei Kantra wirkt der Vater kalt, distanziert und trotz seiner wichtigen Arbeit, bei der er sich mit anderen Menschen befasst, egoistisch.

Wistfully, I [Jo] watched as he [der Vater] walked with them [einer Familie im Krankenhaus] to the elevator. There were more hugs, more murmurs, one of my father’s rare smiles. Hot pressure burned behind my eyes. I didn’t need him to be a saint oder an angel. I just wanted him to act like a dad. What was missing in us, or in him, that made him go away? That made him available to everybody but us.

Virginia Kantra: Meg & Jo, S. 279.

Jo: Die alles andere als rebellische Rebellin

Jede*r, der*die Gerwigs Film gesehen hat, wird sich an die Performance von Saoirse Ronan erinnern. Jo ist, insbesondere im Film, die rebellische Schwester, die keine Lust auf ein Leben als Mutter und Ehefrau hat, sondern Autorin werden möchte. So ganz funktioniert es nicht, einem unkonventionellen Leben zu entkommen, denn am Ende heiratet sie den deutschen Professor Baehr. Aber ihre Handlungen stehen insgesamt für einen emotionalen, oft selbstlosen und freigeistigen Charakter, insbesondere für die Zeit, in der das Buch erschienen ist. Sie schneidet sich ihre langen Haare ab, um damit Geld für die Familie zu verdienen. Bei Kantra wiederum durchlebt Jo eine Sinnkrise und kürzt ihre Locken letztlich aus Liebeskummer. Way to write a character down.

Die vier Schwestern könnten nicht unterschiedlicher sein und halten doch zusammen. (Quelle: AMC Theatres)

In „Meg & Jo“ lebt Jo in New York und hat mehr oder minder erfolgreich studiert. Eine publizierte Autorin ist sie jedoch nicht. Stattdessen betreibt sie unter einem Pseudonym einen Foodblog und arbeitet nebenbei in einem Restaurant, dessen Besitzer der einige Jahre ältere Eric Bhaer ist. Doch bevor wir zu Eric kommen, hier noch ein kleiner Ausflug zu einem anderen Mann in Jos Leben: Trey. Im College ereignet sich diese Szene, nachdem Trey und Jo sich geküsst haben:

He drew back. His gaze met mine, his eyes dark and expectant.
I cleared my throat. „Pretty good.“
„Thanks.“ He leaned in again.
I leaned back. „Must be all the practice.“ [Trey datet dauernd andere Frauen.]
„Don’t hold it against me.“
My cheeks started a slow burn. „I don’t. The thing is… I don’t think you should practice with me.“
„Not with you. For you.“ His eyes held mine with dark, disconcerting sincerity. „Everything I’ve ever done… It’s all for you, Jo.“

Virginia Kantra: Meg & Jo, S. 95f.

Cringe much? Andere Frauen als Übungsobjekte für die große Liebe? Klingt im höchsten Maße problematisch. Ja, Trey macht auch nette Dinge für die Schwestern und ist hilfsbereit. Aber alles in allem ist sein Charakter dennoch eher negativ einzuordnen, ganz besonders, weil er Jo trotz mehrmaliger Abfuhr nicht in Ruhe lässt und sie dauernd aus dem Blauen heraus küsst. Von Consent hat Trey noch nicht allzu viel gehört. Und ohne groß zu spoilern: Nicht nur einer March-Schwester gegenüber verhält er sich unangebracht…

Kommen wir zurück zu dem einzigen Mann, der sich nicht toxisch verhält: Eric Bhaer. Er lässt Jo die Wahl, lässt sie entscheiden, in welche Richtung sich die Beziehung entwickelt, denn er weiß um die Machtdynamik, die Beziehungen zwischen Chef*innen und Angestellten haben. Eric hilft ihr auch dabei, ihre „Stimme“ zu finden – nett von ihm, aber ich frage mich: Benötigt Jo March, die feministische Figur, die schon immer geschrieben hat, dafür die Hilfe eines Mannes? Was ist mit der latenten Queerness, die ihr nicht erst seit Gerwigs Film zugesprochen wird? Wo überhaupt ist in Kantras Version die Diversität, die ihre Adaption hätte modern machen können? Das Buch strotz vor Klischees über die Südstaaten, LGBTIQA oder BIPoC findet man hingegen nicht. Okay, letzteres stimmt nicht ganz: Eric Bhaer ist Schwarz. Als er nachts vor Jos Tür steht und sie nicht da ist, um ihn reinzulassen, macht sie sich Sorgen, er könne als Einbrecher eingeordnet und erschossen werden. Dies ist in Anbetracht von Polizeigewalt eine begründete Angst, allerdings wirkt es, als habe Kantra die Szene nur eingearbeitet, um sich einen Anstrich von wokeness zu geben, denn im restlichen Buch zeichnet sich Baehr vor allem durch seine muskulösen, tätowierten Arme sowie seinen ständigen Gebrauch von Küchenanalogien und -metaphern aus („You have a lot on your plate.“). Rassismus wird ansonsten nicht weiter thematisiert.

Wenn 2020 unmoderner ist als 1868

Was bleibt also unterm Strich von diesem „contemporary retelling“? Bei mir ist es überwiegend Enttäuschung. Kantra vertut unglaublich viele Chancen, Alcotts Charaktere zu modernisieren. Jo als queere Frau, die einen Bestseller nach dem anderen schreibt? Meg als überforderte Mutter, die am 8. März (und darüber hinaus) einfach streikt? Trey als Mann, der nicht dem Mythos der Friendzone anhängt und gegen toxische Männlichkeit kämpft? Forget it! Die modernste Entscheidung trifft die Mutter der Mädchen. Sie trennt sich noch während ihrer Reha vom Vater – die beste Wahl, die eine Frau in Kantras Universum trifft. Alles in allem wirkt das über 150 Jahre ältere Original um einiges moderner als die Version von 2020. Neu ist also nicht immer besser. Mein Rat: Alcotts Version lesen und den Film schauen, das lohnt sich um einiges mehr als Kantras konventionelle, fast schon reaktionäre Aufbereitung, die denkt, mit einem anonymen Foodblog sei der Höhepunkt an Modernität erreicht.

Virginia Kantra: Meg & Jo, Penguin (16,99 Euro)

4 Gedanken zu „Eine moderne Nacherzählung – wirklich?“

  1. Ich habe „Little Women“ gelesen (und keinen einzigen der ungefähr hundert Filme dazu gesehen) und erinnere mich an den Vater nur aus einer einzigen Szene. Er kommt vom Krieg nach Hause ud das Einzige, was er sagt, ist, dass er es toll findet, dass Megs Hände so rau von der Arbeit sind, weil das beweist, dass sie endlich mal was im Haushalt tut. Ich mochte ihn wirklich auch schon in DER Version nicht!

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    1. Ich habe ihn damals ein wenig anders gesehen, das kann aber auch daran liegen, dass ich auch den zweiten Band gelesen habe und da nochmal andere Auftritte sind. Jedenfalls: Ja, die schlechten Charakterzüge sind auch bei Alcott schon angelegt, aber Kantrs treibt es auf die Spitze und Jo entschuldigt sein Verhalten am Ende sogar noch.

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      1. Ich habe alle Bände gelesen, aber es ist die einzige Erinnerung, die ich an den Vater habe. Ist aber auch ewig her. Vielleicht sollte ich es nochmal lesen

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