In ihrem Roman „Das Lied der Arktis“ widmet sich die französische Autorin Bérengère Cournut dem traditionellen Leben der Inuit. Dabei ist ein ganz besonderes Buch entstanden, bei dem allerdings ein großes Fragezeichen zurückbleibt.
Auf sich allein gestellt
Geplagt von Bauchschmerzen verlässt die junge Uqsuralik in der Nacht das Iglu, in dem sie mit ihren Eltern und Geschwistern vor der Kälte geschützt schläft. Plötzlich zieht sich ein Riss durch die Eisdecke und trennt das Mädchen von seiner Familie. Der Vater, vor Trauer schreiend, kann ihr nur noch ein Eisbärenfell, ein Amulett und eine Harpune hinüberwerfen, die dabei zerbricht. Im Nebel verschwindet die Familie. Uqsuralik ist allein, nur fünf Hunde, von denen die vier jungen Rüden nach ihrem Leben trachten, begleiten sie. Ihr bleibt keine Zeit für Trauer oder Angst, denn es geht ums Überleben.
Das Bärengebrüll meines Vaters dringt zu mir herüber, aber aus immer weiterer Entfernung – bis es plötzlich ganz verstummt. Eine düstere Stille umfängt mich und lässt mich eiskalt erstarren.
Das Lied der Arktis, S. 12.
So dramatisch beginnt Bérengère Cournuts Roman „Das Lied der Arktis“, in dem wir die Protagonistin Uqsuralik auf ihrem beschwerlichen Weg begleiten. Das junge Mädchen, welches von seinem Vater zu einer guten Jägerin ausgebildet wurde, schlägt sich in der Eislandschaft allein durch. Uqsuralik ist schlau, sie weiß, wie sie sich verhalten muss. Die Zäsur direkt am Anfang bringt uns vielleicht nicht der Gefühlswelt des Mädchens näher, aber doch ihren Gedanken. Und im Laufe des Romans wird sich herausstellen, dass Gefühle auch in dieser unwirtlichen Gegend, in der das Überleben an erster Stelle steht, eine große Rolle spielen.
Wieder in der Gemeinschaft
Das merkt auch Uqsuralik spätestens, als sie auf eine Gruppe trifft, der sie sich anschließen kann. Aufgrund ihrer Jagdfähigkeiten wird sie von der Gruppe gerne aufgenommen – aber auch beneidet. Ein Mann, der nur „der Alte“ genannt wird, hat bereits ihren Vater für dessen Jagdkünste beneidet und sich geschworen, Rache an dessen Familie zu nehmen. Da kommt ihm Uqsuralik gerade recht. Aber er hat nicht mit ihrer Kraft und ihrem Kampfeswillen gerechnet. Der Alte kann Uqsuralik verletzten, aber trägt ebenfalls eine Wunde davon. Was er nicht schafft, ist, sie zu brechen.
Rache, einzig nur Rache / Daran habe ich all die Jahre gedacht / An seiner Frau, seiner Tochter, seinem Gespann / Ich schwor es mir – ich übe Rache, sobald ich es kann.
Lied des Alten, Das Lied der Arktis, S. 37.
Der Alte ist nicht in der Lage, seine Familie selbst zu ernähren, die Tiere nehmen vor ihm Reißaus. Aber er weiß, wie man die Geister beeinflussen kann. Seine Rachegelüste gehen so weit, dass er sie auf seinen eigenen Sohn ausdehnt, der der Ehemann von Uqsuralik wird. Gefühle ziehen sich hier über mehrere Generationen. Man muss einen lange Atem haben, wie das Beispiel des Alten verdeutlicht. Lange harrt er aus, um Rache zu nehmen, trägt seine Emotionen mit sich durch das Eis. Es zeigt sich: Die Zeit funktioniert hier anders. Außerdem herrschen unter den Menschen besondere Beziehungen, die von verschiedenen Gefühlen geprägt werden.
Verbundenheit mit Natur und Gemeinschaft – Die Zeit als Zyklus
Wenn die Menschen sehen, dass die Eisbären innerhalb einer Jagdsaison zu schnell zu dünn sind, können sie sich auf einen harten Winter einstellen. Sie wissen dann, dass nicht genug Beute vorhanden sein wird und gehen noch sorgsamer mit ihren Vorräten um. Unter dem Eis leben Riesen, die ihre Lieder singen und den Menschen in Träumen auflauern. Die Seele eines Menschen sitzt im ganzen Körper verteilt und kann sich durch die Lüfte auf und davon machen. Tiere werden zu Symbolen und Jagdbeute kommen besondere Ehrungen zuteil. So leben die Inuit im Gleichklang mit der Natur und richten ihr Leben nach deren Lauf. Im Vordergrund steht dabei immer die Nahrungsbeschaffung. Gelingt diese und sind die Vorratskammern gefüllt, gibt es auch Möglichkeiten zur Freizeit. Außerdem werden Feste gefeiert, bei denen nicht nur getanzt, sondern auch gesungen wird.
Diese Gesänge ziehen sich durch das Buch. Jede Figur hat ihr eigenes Lied, in dem sie ihre Lebensgeschichte schildert. So lernen sich die Menschen näher kennen, erfahren etwas über einander. Manchmal werden in den Liedern auch Anklagen erhoben oder Wahrheiten ausgesprochen, die lange verborgen waren.
Als das Wasser zu steigen begann / Als die Muscheln zu pfeifen fingen an / Da erkannte ich deinen Atem, erkannte ich dein Lied / Das ganz besondre Zungenklackern / Das ich so geliebt.
Lied von Sauniq an ihre kleine Mutter, Lied der Arktis, S. 92.
Wie bereits gesagt, haben die Menschen trotz der häufigen räumlichen Entfernungen tiefe Beziehungen zueinander. Das liegt am Verständnis von Zeit sowie Leben und Tod. Die Zeit wird als Zyklus wahrgenommen. Neugeborenen werden die Namen Verstorbener zugeflüstert und je nachdem, wie die Babys reagieren, weiß man, wessen Seele nun in ihnen wohnt. In der Gruppe, zu der Uqsuralik jetzt gehört, lebt auch eine alte Schamanin, Sauniq. Bei der Geburt von Uqsuraliks Kind hilft sie und flüstert dem Baby Namen zu. Im Körper des neugeborenen Mädchens lebt nun die Seele von Sauniqs Mutter, Hila. Das Baby ist nicht nur die Tochter Uqsuraliks, sondern auch die kleine Mutter der Schamanin. So bilden die drei Frauen einen Lebenskreis. Hila erinnert sich an Dinge, die in ihrem vorherigen Leben geschehen sind, erkennt Orte wieder. Die Toten leben in den Menschen weiter, tragen ihrer Erinnerungen und Erfahrungen hinüber in das neue Leben. Familie wird dadurch auf eine ganz andere Weise gedacht, denn Familie sind nicht nur die, die einen umgeben oder mit denen man durch Blut verbunden ist, sondern auch jene, die verstorben und wiedergekommen sind. Dieser Einklang von allem, von Leben und Sterben, von Menschen und Natur, von Tieren und Geistern ist der dunkelrote Faden, der sich durch den Roman zieht.
Jetzt habe ich eine Mutter, die zugleich die Tochter meiner Tochter ist, während ich ihre Großmutter bin: Wir drei bilden zusammen einen Lebenskreis […].
Das Lied der Arktis, S. 100.
Erzählkunst auf hohem Niveau
Es ist ein Genuss, zu lesen, wie Cournut all diese Fäden verbindet. Nie wird „Das Lied der Arktis“ langweilig oder gar eintönig. Die Beziehungen der Menschen zueinander und zur Natur stehen im Vordergrund. Letztere ist keineswegs eine weiße, öde Landschaft, sondern wechselt ihre Gestalt mit jeder Jahreszeit. So vielfältig wie das Aussehen der Natur ist auch die Erzählkunst Cournuts. Die kurzen Abschnitte, die alle aus Uqsuraliks Perspektive geschildert werden, werden durch verschiedene Lieder unterbrochen. Dadurch kommen auch andere Figuren zu Wort, wodurch ein großer, schillernder Teppich gewoben wird. „Das Lied der Arktis“ ist auf eine ganz besondere Weise geschrieben, die sofort in den Bann zieht. Untermalt wird die Geschichte am Ende mit Fotos aus dem Leben der Inuit und mit einem hilfreichen Glossar; beides hilft, in die Kultur zumindest ein Stück weit einzutauchen.
Auf der Ebene der Erzählweise und letztlich auch inhaltlich ist das Buch eine große Empfehlung. Mit Uqsuralik hat Cournut eine wahrhaft starke Frauenfigur geschaffen, deren Leben man gerne begleitet. Ich wünschte, das könnten die abschließende Worte zu dem Roman sein – aber es bleibt ein großer, offener Rest.
Das riesige Fragezeichen
Beim Lesen habe ich mir die ganze Zeit eine Frage gestellt. Bevor ich verrate, welche das ist, hier ein längeres Zitat aus dem Roman. Es fällt im Epilog und ist der Sicht einer Figur entnommen:
Die Weißen werden schneeblind, sobald ein paar Flocken fallen, aber sie wollen besser wissen als wir, woher die Geräusche, die Tiere und der Wind kommen. […] Ohne je einen Fuß auf Nuna, unser Land, gesetzt zu haben, schreiben sie Tausende von Seiten über uns, füllen Lederhüllen mit unseren Geschichten, für die andere sie rühmen. Diese Menschen besiedeln und kolonisieren eine Vorstellungswelt, die ihnen nicht gehört.
Das Lied der Arktis, S. 220.
Ich frage mich: Tut Cournut nicht genau das, was ihre Figur kritisiert? Sie schreibt, dass sie zehn Monate lang eine Polarsammlung sowie das Archiv des Französischen Polarinstituts besichtigt und außerdem viel gelesen habe. Worte über den Besuch des Landes, über das sie schreibt, fallen nicht, weshalb davon auszugehen ist, dass keiner erfolgt ist. Es hat außerdem den Anschein, als habe die Autorin keine weiteren Verbindungen zu der Kultur, außer das von ihr erwähnte Interesse an ebenjener. Natürlich ist es ihr nicht möglich gewesen, genau dieselbe Welt wie in ihrem Roman zu besuchen, denn immerhin schildert sie eine traditionelle Lebensweise der Inuit, die vor der kulturellen Umwälzung und damit vor der Begegnung mit weißen Menschen stattgefunden hat. Dennoch hätte es bestimmt zumindest die Möglichkeit gegeben, mit der heutigen Lebensweise in einen direkten Kontakt zu kommen.
Meiner Ansicht nach ist es durchaus problematisch, als weiße, europäische Person über eine Kultur zu schreiben, die zu einem marginalisierten Volk gehört. Schreibt man dadurch nicht die koloniale Ausbeutung fort? Ein wenig erinnert mich die Problematik an Karl May: Da schreibt jemand, der kaum oder nur wenig direkte Berührungspunkte mit der Kultur hat, über ein Volk, dem er*sie nicht angehört. Für mich, die sich bisher zugegebenermaßen nicht mit den Inuit befasst hat, ist es außerdem schwierig zu beurteilen, wie passend die Darstellung dieser Kultur erfolgt. Wird beispielsweise der Glaube der Inuit korrekt abgebildet oder wird er im Roman verstärkt mythisch aufgeladen? Wir befinden uns damit an einem wichtigen Punkt von Fiktionalität: Vielleicht darf der*die Autor*in über eine ihm*ihm fremde Kultur schreiben, aber sollte er*sie dies deshalb auch tun? Und falls er*sie sich dafür entscheidet, wieviel sollte hinzugedichtet werden? Natürlich kommt hier auch noch hinzu, wer überhaupt die Möglichkeit hat, einen Roman zu verfassen, es geht also ganz klar um Ressourcen und Zugänge. Weitere Fragen, die daraus folgen: Wer wird im Literaturbetrieb gesehen? Wessen Bücher werden übersetzt?
All das sind Fragen, die sich mir beim Lesen des Romans gestellt haben und die sich für mich nicht abschließend beantworten lassen. Dennoch hat Cournut das erreicht, was sie selbst als Ziel ihres Buches angibt:
Möge dieser Roman eine Eintrittspforte in das vielfältige Universum der Inuit sein, und mögen die folgenden Fotografien Berührungspunkte mit einer vergangenen, doch immer noch lebendigen Welt bilden.
Das Lied der Arktis, S. 221.
Ja, Cournut schreibt exzellent und ja, ihre Protagonistin ist eine besondere, in allen Bedeutungen des Wortes starke Frau. Dennoch bleibt für mich am Ende des Romans ein riesiges Fragezeichen. Was der Roman in jedem Fall geschafft hat: Ich möchte mich in Zukunft näher mit der Kultur der Inuit befassen. Und vielleicht werde ich das Gelesene dann mit ganz anderen Augen beurteilen.

Jetzt ist es an euch: Diskutiert gerne in den Kommentaren, wie ihr meine offenen Fragen beantworten würdet. Ich freue mich auf den Austausch!