Aminata Touré ist nicht nur die erste afrodeutsche Vizepräsidentin eines Landtages, sondern auch die jüngste. Mit 28 Jahren hat sie damit politisch schon viel erreicht. Jetzt erscheint im KiWi-Verlag ihr erstes Buch „Wir können mehr sein. Die Macht der Vielfalt“, in dem sie einen Blick hinter die politischen Kulissen gewährt – denn warum damit warten, wenn man einen direkten Zugang bieten kann? Ich durfte das Buch nicht nur vorab lesen, sondern auch ein Interview mit der Politikerin aus Norddeutschland führen, die den Weg für Schwarze Frauen in die Politik ebnet.
An einem Freitag im August öffne ich gespannt meinen Briefkasten. Darin liegt ein Umschlag, gesendet aus dem KiWi-Verlag. Er enthält ein Rezensionsexemplar von Aminata Tourés Buch „Wir können mehr sein“. Noch am selben Tag blättere ich durch die Seiten. Kaum ein anderes politisches Buch wurde in meinem Umfeld dieses Jahr so aufgeregt erwartet. Es passiert eben nicht alle Tage, dass sich der Blick auf die Politik in unserem beschaulichen Schleswig-Holstein richtet. Das Bundesland zwischen den Meeren steht bislang selten in den Schlagzeilen und ist bei vielen wohl eher durch politische Skandale wie den „Heide-Mord“ oder die Barschel-Affäre bekannt. Aber jetzt richten sich die Blicke aus anderen Gründen hierher.
Der weniger begangene Pfad
„Für alle, die Wege gehen, die vor ihnen noch niemand gegangen ist.“ Das ist die Widmung, die Aminata ihrem Buch voranstellt. Sie selbst ist genau so eine Person und durch „Wir können mehr sein“ nimmt sie die Leser*innen mit auf diesen Weg. Touré möchte mit ihrem Buch junge und diverse Menschen erreichen, Menschen, die sich für Politik und Literatur interessieren. In „Wir können mehr sein“ wird klar, dass es genau diese Personen sind, die der Politikbetrieb braucht, denn nur durch verschiedene Perspektiven, insbesondere diejenigen abseits der Dominanzgesellschaft, lassen sich nachhaltige Veränderungen erzielen, die über Verwaltung der Zustände und Machterhalt hinausgehen.
Wenn Touré die Arbeit an „Wir können mehr sein“ mit einem einzigen Wort beschreiben müsste, dann wäre das „intensiv“. Sie war in einer sehr glücklichen Lage: „Mich haben mehrere Verlage gefragt und da ich gerne schreibe, bin ich das Projekt gern angegangen. Ich hab mich bei KiWi direkt wohlgefühlt und wusste, dass ich dort das Buch schreiben kann, das ich schreiben wollte.“ Sehr viel besser kann es für eine*n Autor*in wohl kaum laufen. Das Schreiben zieht sich neben dem Lesen wie ein roter Faden durch Tourés Leben. Sie ist sicher, dass sie so oder so schreiben würde – ganz gleich, ob sie Politikerin geworden wäre oder nicht. Und so ist dieses Buch neben allem anderen eine Form der Selbstermächtigung über die eigene Biographie.
Eine Sache, die mich zunehmend belastet hat, ist, nicht mehr die Macht über meine eigene Geschichte zu haben.
Aminata Touré: Wir können mehr sein, S. 252.
Obwohl lange politisch interessiert, zögert sie aufgrund von Berührungsängsten zunächst, einer Partei beizutreten. Die Abläufe sind ihr nicht vertraut, aber nach und nach wagt sie die ersten Schritte. Sie beginnt, sich in der Grünen Jugend zu engagieren und rückt 2017 schließlich für Monika Heinold in den schleswig-holsteinischen Landtag nach. In „Wir können mehr sein“ berichtet sie davon, wie die Wahl für den Listenplatz verlief, was auf Parteitagen geschieht und wie ihr aktueller Tagesablauf aussieht. Dadurch macht die Neumünsteranerin Politik nahbar, insbesondere für junge Menschen. Dieser Blick hinter die Kulissen ist definitiv eine der Stärken des Buches und eine logische Fortführung von Tourés Arbeit bei Instagram, bei der sie Einblicke in ihren politischen Alltag gewährt.
Familie als Hafen
Für eine Landtagsabgeordnete hat Aminata eine vergleichsweise ungewöhnliche Geschichte, denn sie wuchs die ersten fünf Jahre ihres Lebens in einer Geflüchtetenunterkunft auf. Neben ihren Schwestern spielte ihre Mutter dabei eine große Rolle. Sie erzog die Kinder zur Selbstständigkeit und wusste gleichzeitig, wann sie sie verteidigen musste. In ihrem Buch schildert Touré verschiedene Situationen, in denen sich die Mutter schützend vor ihre Kinder gestellt hat, beispielsweise bei rassistischen Vorkommnissen in der Schule. Deshalb ist es von großer Bedeutung, dass ihre Mutter mit „Im Herzen des migrantischen Lebens“ einen Ausschnitt zu dem Buch beigesteuert hat. „Ihre Perspektive und stellvertretend die der ersten Generation Einwander*innen wird zu selten gehört“, erklärt Aminata. Ihre Mutter wiederum schreibt, sie sei „sehr, stolz, dass meine Tochter eine [der Verbesserungen unserer Demokratie] ist“. In Tourés Ausführungen wird deutlich, dass dieser Stolz auf Gegenseitigkeit beruht. Genau dieser Abschnitt sowie die Gedichte Tourés, die beinah jedem Kapitel folgen, zeigen, wie persönlich das Buch ist. Es geht nicht nur um eine Darstellung des Politikbetriebes, sondern vor allem um das Nachzeichnen eines Lebensweges, der eng verflochten ist mit Familie und Freund*innenschaften, die Touré bei ihrem Gang in die Politik bestärkt haben. Genauso relevant sind die Momente, in denen sie in der Schwazen Community eine Gemeinschaft findet. So habe sich zwischen Aminata, Tupoka Ogette, Alice Hasters und Aminata Belli eine „Sisterhood“ gebildet, in der sich Frauen gegenseitig auffangen und unterstützen.
Es braucht Verbündete, mit denen man mehr ist als die Projektionsfläche, zu der man gemacht wird.
Aminata Touré: Wir können mehr sein, S. 230.
Natürlich ist Aminatas Mutter eines ihrer Vorbilder, aber es gibt auch viele Autor*innen bzw. Politiker*innen, die sie bewundert. Dazu gehören Barack und Michelle Obama, James Baldwin, May Ayim und Audre Lorde. Diese Personen eint laut der 28-jährigen vor allem eines: „Sie haben ihren Weg beschrieben oder sich für Themen wie Gleichstellung, Antirassismus und Demokratie eingesetzt.“ Man merkt, dass ihr eigenes Schreiben von diesen Lektüren beeinflusst ist. In ihre Reden im Landtag lässt Touré immer wieder Zitate oder Gedichtausschnitte dieser Personen fallen, zum Beispiel aus dem Gedicht „grenzenlos und unverschämt“ der afrodeutschen Dichterin May Ayim. In ihrem eigenen Bücherregal finden sich allerdings ebenso Bücher, die man dort vielleicht nicht unbedingt erwarten würde: Liebesromane sind Aminatas guilty pleasure.

Ein Leben voller Bücher
Schon immer hat das Lesen für Touré eine besondere Rolle gespielt, erst in Bibliotheken und später mit eigenen Büchern. Sie beschreibt die Häuser ihrer Freund*innen aus der Schulzeit, in denen es nicht nur viel Platz, sondern vor allem große Bücherregale gegeben hat – ein Luxus, den Touré und ihre Familie in ihrer kleinen Wohnung nicht hatten. Diese Zeilen machen deutlich, welche Rolle Klassismus beim Zugang zu Literatur spielt, was Aminata im Interview näher ausführt: „Ich glaube, dass es einen Unterschied macht, ob man in einem Haushalt lebt, in dem Bildung und damit auch der Zugang zu Literatur einem vermittelt wird. Bei uns war es so, dass wir kaum eigene Bücher hatten, aber wir regelmäßig in die Bibliothek gegangen sind.“ Umso besonderer, in den Worten der Grünen-Politikerin „surreal“, war es, nun ihr eigenes Buch druckfrisch in Händen zu halten.
Nach der Schule verzog ich mich oft in die Stadtbibliothek und las dort stundenlang, bis sie zumachten. Ich flüchtete in die Bücher.
Aminata Touré, Wir können mehr sein, S. 127.
„Musik ist für mich immer ein Bezug zu bestimmten Lebensphasen“ schreibt Touré und dasselbe gilt für Bücher. „‚Farbe bekennen‘ von May Ayim, Katharina Oguntoye und Dagmar Schultz erinnert mich an die Phase, in der ich mit Blick auf Schwarzen und intersektionalen Feminismus nochmal anders politisiert wurde.“ Als junge, Schwarze Frau aus einer Geflüchtetenfamilie steht Touré selbst an vielen dieser Kreuzungen, auf die sich der intersektionale Feminismus bezieht. In ihrem Buch spielen die Themen Rassismus und Diversität deshalb eine herausgehobene Rolle. Zugleich bezieht sie sich auf Probleme innerhalb der Schwarzen Community ebenso wie auf Tokenism und verdeutlicht, warum sie sich für den Weg in eine Institution entschieden hat, die von vielen Seiten kritisiert wird. Dabei bleibt Touré direkt, der ein oder andere Kraftausdruck fällt zwischen den Zeilen ebenso wie einige Anglizismen. Was die einen vielleicht als ‚flapsig‘ titulieren würden, kann für die anderen Berührungsängste abbauen.
Um meinen Leseeindruck zusammenzufassen: Für mich war das Buch sehr zugänglich und das nicht nur, weil ich selbst aus Schleswig-Holstein komme und dadurch viele der dortigen politischen Strukturen kenne. Ich bin mir sicher, dass es ein wichtiges Stück Repräsentation bedeutet und sich unglaublich viele Leute dadurch gesehen fühlen. Es kann Politikverdrossenheit oder aber auch Hemmungen vor Politik entgegenwirken und unterstreicht die Chancen ebenso wie die Grenzen, denen unser politisches System unterliegt.
Was man aber immer vor Augen haben muss, ist, dass Demokratie neben Einsatz und Leidenschaft eben auch Geduld und Ausdauer erfordert.
Aminata Touré: Wir können mehr sein, S. 52.
Ob Aminata zum Schluss noch einige Buchtipps hat? Ja, jede Menge! Am Ende des Interviews bitte ich sie um eine kurze Liste, die ihr untenstehend findet.
Welches Buch…
….gibt dir Kraft, wenn Du traurig bist? „Lyrische Hausapotheke“ von Erich Kästner.
…hat Dir einen neuen Blick auf die Welt eröffnet? „Farbe bekennen – afrodeutsche Frauen auf den Spuren ihrer Geschichte“ von May Ayim, Katharina Oguntoye und Dagmar Schultz.
…würdest Du am liebsten jedem*r in die Hand drücken? „Exit Racism“ von Tupoka Ogette und „Was weiße Menschen nicht über Rassismus hören wollen, aber wissen sollten“ von Alice Hasters.
…ist für Dich der Inbegriff von Freude? „Queenie“ von Candice Carty-Williams.
…hast Du so oft gelesen, dass es schon ganz zerfleddert ist? „Schwarzer Feminismus – Theorie und Politik afroamerikanischer Frauen“ von Gloria I. Joseph.

Danke an Aminata Touré für das Interview und an den KiWi-Verlag für das Rezensionsexemplar!
Bildquelle Beitragsfoto: Imke Lass